Grundlagen/Wissen

von Yasemin Yilmaz Fotos Yasemin Yilmaz

Japans Gartenkunst auf kleinstem Raum

Die Bewohner Tokios begrünen gerne ihre Gehwege, Hauseingänge oder selbst kleinste Innenhöfe. Denn trotz des knappen Platz will man auf Gärten nicht verzichten. Über diese besondere Beziehung zum Grün berichtet Yasemin Yilmaz, Studentin der Innenarchitektur in Halle, die derzeit ein Auslandssemester in Tokio verbringt.

Als ich nach Tokio kam, habe ich damit gerechnet, dass die Stadt mich überfordern würde. Zwar hatte ich zuvor schon in anderen großen Städten wie Istanbul gelebt, aber Tokio ist nochmal eine ganz andere Nummer, was mein persönliches Interesse geweckt hat. Wie lebt es sich wohl in so einer großen Stadt? Warum wollen so viele Menschen eigentlich dort leben?

 

Umgeben von Naturschönheiten
Abseits der großen Städte wie Tokio, Osaka oder Hiroshima hat Japan landschaftlich einiges zu bieten. So erstreckt sich der japanische Archipel über fast 3000 Kilometer von Nord nach Süd und bietet eine Vielzahl diverser Naturschönheiten, vom Treibeis in den Meeren vor Hokkaido bis hin zu den Mangrovenwäldern in Okinawa.

 

Davon ist in den Städten nichts zu spüren. Täglich drängen sich mehrere Millionen Menschen in den Zügen des öffentlichen Nahverkehrs, um zur Arbeit, Schule oder Uni zu kommen. Einfach, weil es die schnellste und günstigste Methode ist. Viele nutzen die Zeit auch um zu schlafen – sogar im Stehen. Leider passiert es hin und wieder, dass man von einem gestressten Polizisten in den Zug gestoßen wird, wenn zu wenig Platz für alle Passagiere ist. Ja, diese Momente gibt es und es ist wenig angenehm eingepfercht zwischen fremden Anzugträgern und Rucksäcken zu stehen. Ich bin mir sicher, mich auch in Zukunft nicht komplett daran gewöhnen zu können aber es wird besser.

 

Ich fühle mich trotzdem ziemlich wohl hier, ohne ein Liebhaber von Großstädten zu sein. Zwar bin ich jeden Tag knapp drei Stunden mit dem commuten, also dem Pendeln, beschäftigt, aber abgesehen davon gibt es viele Orte, die einen vergessen lassen wie groß diese Stadt in Wirklichkeit ist. Neben den bekannten Vierteln wie Shibuya und Shinyuku, wo zu jeder Tages- und Nachtzeit immer etwas los ist, gibt es nämlich auch viele sehr ruhige Gegenden. Die Gebäude sind dort maximal zweigeschossig, Bäume säumen die Straßen und Haus- und Ladenbesitzer bepflanzen und begrünen großzügig den Außenraum ihrer Domizile. Beim genaueren Hinsehen habe ich diese Eigenart fast überall, auch im dichten urbanen Zentrum entdeckt. Hauseingänge, Ladentüren oder Höfe, die mit großen und kleinen Pflanzen dekoriert sind.

 

Leben mit Pflanzen und Gärten
Diese stehen in der Regel einfach auf der Straße, wo jeder sie mitnehmen könnte. Das aber macht man in Japan nicht. Diebstahl soll Unglück bringen. Über diese Eigenart verwundert, habe ich mit einigen Japanern gesprochen, die mir erklärt haben, dass die Pflanzen einen Garten symbolisieren. Da Boden teuer ist und meistens mehr wert ist, als das Haus darauf, bleibt selten Platz für einen richtigen Garten. Dennoch wollen die meisten Japaner nicht auf das Leben mit Pflanzen verzichten. Deshalb werden Gärten auf den Gehweg verlegt. So haben alle etwas davon und das Eigenheim ist geschmückt. Schließlich gilt Schönheit als hohes Gut in Japan. Die Vielzahl der kleinen "Gärten" tragen zur Begrünung der Stadt bei. Mich hat es anfangs überrascht, wie grün es in Tokio ist.

 

Die große Zahl an Grünflächen in der Stadt unterliegt keinem städteplanerischem Masterplan, sondern ist historisch bedingt. In der Edo-Zeit 1603 bis 1868 waren die Anwesen der Samurai oft am Rande von Hügeln mit großen Gärten entlang der Hänge gelegen. Viele dieser Gärten wurden während der Meji-Zeit (1868 bis 1912), als das politische System und mit ihm auch die japanische Gesellschaft nach westlichen Vorbildern umgestaltet wurde, in öffentliche Parks verwandelt. Deshalb befinden sich die Parks heute oft in außergewöhnlichen räumlichen Umgebungen. Eingebettete Seen und Gewässer geben meist den topografischen Tiefpunkt eines Gartens an. Die ältesten Bäume sind immer in der Nähe von Schreinen zu finden. Wenn man auf einem der vielen Hochhäuser steht, kann man diese auch schon aus der Ferne entdecken.

 

Bedeutung der Bäume
Von allen Pflanzen haben Bäume in der japanischen Kultur eine zentrale Bedeutung. In den Kare-san-sui, was übersetzt so viel wie trockene Landschaft heißt, besser bekannt unter dem Namen Zen-Garten, stehen Bäume als Symbol für das Leben. In der Gartenkunst sind die Japaner Meister ihres Fachs, und Bäume sind darin das Sinnbild für das Menschsein, da sie Teil eines Ganzen und zugleich individuell sind.


Wenn man bedenkt, dass es in den Zen-Gärten keine Blumen gibt, wird nochmal klar, welche besondere Rollen den Bäume zuteil wird. Lediglich die Bäume blühen beziehungsweise ihre Blätter färben sich. In der japanischen Literatur unterstreichen kigo, sogenannte Jahreszeitenwörter, die Eigenschaften und Schönheit der jeweiligen Saison. Bekannt ist vor allem die Kirschblüte Sakura. Sie steht für den Frühling, blüht vor allem im April und auch nur für eine kurze Zeit. Dann ist absolute Hochsaison und überall werden Feste gefeiert. Der gesamte Tourismus basiert auf Jahreszeiten. Zu jedem Ort gibt es eine Empfehlung darüber, zu welcher Jahreszeit man sich am besten dort aufhalten sollte. Für die Kirschblüten gibt es sogar spezielle Webseiten, die prognostizieren, wann und wo die Blüte im kommenden Jahr zu sehen sein wird. Die Liebe zur Natur mit dem Blick für Details ist auf jeden Fall ansteckend. Ich habe mittlerweile angefangen, Pflanzen für meinen eigenen "Garten" zu sammeln.


phone
mail

Newsletter-Anmeldung

Sie wollen Neues und Wissenswertes von und über VARIO erfahren? Dann melden Sie sich hier zum Newsletter an, wir informieren Sie gerne.