Insgesamt wurden für die Studie 3776 Menschen befragt, darunter 1809 Beschäftigte zwischen 25 und 54 Jahren und 1967 Mitglieder des sozialen Netzwerks XING. Mehr darüber von Ulf Rinne, Arbeitsmarktforscher am Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn.
Herr Rinne, die Studie "Arbeiten in Deutschland" ergab, dass Arbeitnehmer in ihrer Freizeit durchschnittlich fünf Stunden pro Woche mit beruflicher Aktivität beschäftigt sind. Also immerhin eine Stunde pro Wochentag. Ist das ein Indiz, dass immer mehr abseits des klassischen Büroplatzes gearbeitet wird?
Ulf Rinne: Ja, das ist ein klares Indiz dafür. Die Grenzen verschwimmen, Arbeit und Freizeit lassen sich oft nicht mehr klar voneinander abgrenzen. Das gilt übrigens auch umgekehrt, nämlich: Wieviel Freizeitaktivität erledigt man eigentlich während der Arbeitszeit? Dazu haben wir in unserer Befragung leider keine Fragen gestellt. Allerdings kann man von diesem Trend auch profitieren, weil Arbeit und Freizeit flexibler in Einklang zu bringen sind. Ein Beispiel ist etwa der Vater, der seiner Tochter heutzutage auch mal nachmittags bei der Ballettvorführung zusehen kann und sich den E-Mails dann abends widmet, wenn die Kinder schlafen.
Wie gehen Unternehmen darauf ein, wie organisiert man Arbeitszeiterfassung heute?
Die Unternehmen kämpfen noch darum, das neu zu organisieren. Mobile Arbeitszeit wird heute größtenteils noch nicht systematisch erfasst, das ist mit Sicherheit so. Wenn aber auf der anderen Seite verstärkt Vertrauensarbeitszeit vereinbart wird, ist das auch schwierig und auch nicht unbedingt notwendig. Die gelebte Arbeitswirklichkeit der modernen Wissensgesellschaft deutet an, wohin die Entwicklung geht: Die traditionellen Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes sind hier einfach nicht mehr zeitgemäß.
Das heißt, je genauer man auf die Wissensgesellschaft oder in kreative Bereiche schaut, desto geringer der Anteil derjenigen, die angeben, dass ihre Arbeitszeiterfassung an den Arbeitsplatz gebunden ist?
Das Arbeitszeitgesetz definiert Arbeitszeit als weisungsgebundene Zeit. Man geht davon aus, dass man sich an einem Arbeitsplatz befindet, an dem Handlungsanweisungen existieren. Aber die spielen in der Arbeitswelt von heute eine immer geringere Rolle, man geht zu Zielvereinbarungen über. Es wird also immer häufiger lediglich ein Ziel definiert, und der Weg dorthin ist den Arbeitnehmern weitgehend freigestellt.
Gibt es Initiativen, die versuchen, das Arbeitszeitgesetz zu ändern?
Konkrete Initiativen sind mir nicht bekannt. Aber es wird häufig geäußert, wie auch von uns, dass das Arbeitszeitgesetz nicht mehr zeitgemäß für die sich wandelnde Arbeitswelt ist. Dort überholt die Realität die gängigen Definitionen von Arbeit und Arbeitszeit. Für einen anderen Teil der heutigen Arbeitswelt ist es allerdings weiterhin zeitgemäß, etwa für Industriearbeitsplätze, aber auch für viele Dienstleistungsarbeitsplätze im Verkauf oder bei Kundenkontakt.
Wenn man den Bereich nimmt, in dem die alte Art der Arbeitszeiterfassung nicht mehr funktioniert: Kann man sagen, dass Home Office und mobiles Arbeiten diese Entwicklung nochmal beschleunigt? Oder ist das die Frage nach Henne, Ei und was als erstes da war?
Beides hängt in der Tat miteinander zusammen. Der Trend zu Home Office Regelungen führt natürlich dazu, dass sich Arbeitszeit weniger präzise erfassen lässt. Ich kann dann beispielsweise kurz zu Hause in den Keller gehen und die Waschmaschine anstellen. Wie geht man damit um, wie erfasst man das? Home Office Regelungen interagieren mit einer Entgrenzung von Arbeit, und es kommt auf den Einzelnen an, sich eigene Grenzen zu setzen und sehr viel aktiver seine Arbeitszeit zu managen. Der moderne Arbeitsalltag stellt ganz klar immer mehr Management-Anforderungen an sich selbst.
Ein Ergebnis der Studie ist, dass mehr als 50 Prozent mit den derzeitigen Arbeitszeit-Lösungen beim mobilen Arbeiten nicht zufrieden sind.
Bestimmte Facetten der modernen Arbeitswelt sind einfach nicht für jeden Beschäftigten geeignet, das sieht man an der Unzufriedenheit. So passt etwa entgrenzte Arbeit tatsächlich nicht für alle, denn es gibt einen bestimmten Anteil von Personen, die sich mit starren Vorgaben und festen Strukturen wohler fühlen, sicherer und zufrieden.
So wie einige auch zufrieden sind, einen eigenen Arbeitsplatz im Büro zu behalten, an dem sie täglich arbeiten können?
Es gibt natürlich den Trend der Unternehmen zu Großraum- und offenen Büros, damit wird derzeit viel experimentiert. Aus meiner Sicht wird jedoch versucht, möglichst vielen Mitarbeitern gerecht zu werden. Einerseits durch individuelle Arbeitsplätze, die auch Rückzugsraum bieten. Auf der anderen Seite schafft man Möglichkeiten miteinander zu interagieren. Das trifft insbesondere auf Unternehmen der modernen Wissensgesellschaft zu. Hier entwickelt man ein feines Gespür, dass es bestimmte Phasen gibt, in denen man konzentriert und zurückgezogen arbeiten muss – genauso wie es Momente gibt, in denen der kreative Austausch und das gemeinsame Arbeiten äußerst produktiv sein kann.
Das klingt, als werden sich die Lösungen weiter individualisieren, jeder Mitarbeiter kann sein eigenes Modell mit dem Unternehmen vereinbaren?
Ja, einerseits ist ein Trend zu individuellen Lösungen klar erkennbar. Man wird also in Zukunft versuchen, den durchaus unterschiedlichen Präferenzen der verschiedenen Mitarbeitenden in einem Unternehmen gerecht zu werden. Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten und keinen Königsweg. Gleichzeitig wird man aber auch Kompromisse finden müssen, damit diese individuellen Lösungen auch in die Gesamtunternehmens-Strategie passen und miteinander vereinbar sind.
Was sind aus Ihrer Sicht noch weitere interessante Ergebnisse der Studie? Interessant sind auch die Geschlechterunterschiede.
Zwei Drittel der Männer, aber nur die Hälfte der Frauen verbringen einen Teil ihrer Freizeit mit beruflicher Aktivität. Erklären lässt sich das einerseits mit der immer noch ungleichen Verteilung von Arbeit und Freizeit bzw. Arbeit im Haushalt, die Frauen daheim weniger Zeit für Berufliches lässt. Andererseits gibt es immer noch erhebliche Geschlechterunterschiede in den Tätigkeitsprofilen.
Dr. Ulf Rinne, Jahrgang 1979, ist Arbeitsmarktforscher am Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn
Mehr über die Studie:
"Neue Arbeitswelt: Arbeitszeitgesetz verliert an Bedeutung" IZA Newsroom vom 6. März 2018