Charkiw liegt in der Ostukraine, wo die ersten russischen Angriffe am 24. Februar erfolgten. Die Evakuierung der Hochschule begann noch am selben Tag. Die beiden Hochschul-Leiter, Iryna Matsevko and Oleg Drozdov, brachten sich im westukrainischen Lviv in Sicherheit. Dort hat die Hochschule mittlerweile eigene Räume in der Akademie der schönen Künste bezogen, den Lehrbetrieb Anfang April teilweise wieder aufgenommen und die Hochschulleitung hofft, dass in den nächsten Wochen die 15 MitarbeiterInnen und die zerstreuten 40 Studierenden wieder zusammenkommen. Das erste neue Projekt entstand als direkte Reaktion auf die Ereignisse: die Schaffung temporärer Wohnräume für die Flüchtlinge in Lviv und für sich selbst.
(2019 bei der Präsentation des ersten AbsolventInnen-Jahrgangs. Die Architektur-Hochschule in Charkiw startete ihren Lehrbetrieb 2017 als erste Neugründung nach der Unabhängigkeit im Jahr 1991.)
Hoffte man in den ersten Wochen noch, bald wieder nach Charkiw zurückzukehren, versuchen die beiden Leiter jetzt, fürs nächste Semester einen eigenen Bachelor-Studiengang ins Leben zu rufen, der sich mit den veränderten Fragen nach Rekonstruktion, Wiederaufbau und dem kulturellen Erbe beschäftigt. Die Probleme sind vielfältigt. Die Stadt liegt nur 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. "Es ist eine große Herausforderung, die Menschen in die Stadt zurückzuholen", sagt auch Hochsschulleiterin im Interview mit Dezeen, aber es sei auch eine Chance für eine veränderte und nachhaltigere Infrastruktur. Einen Diskurs über Post-War-Cities müssten die Studenten nun führen, genauso wie die Bewohner in den Wiederaufbau zu involvieren.
(Oben: Temporäre Wohnräume, entworfen und umgesetzt von Studierenden im April 2022. Unten: Das Rathaus von Charkiew im März 2022.)
Charkiw hat eine wendungsreiche Geschichte, sie gehörte zum Zarenreich und war strategisch wichtig in der Sowjetunion. Die Zerstörungen sind massiv, aber diejenigen, die bereits über den Wiederaufbau nachdenken, prominent. Nach einem Treffen mit dem Bürgermeister der Stadt, das in Genf Mitte April stattfand, erklärte Sir Norman Forster, dass er demnächst das Manifest für einen städtischen Masterplan vorlegt, der das Kulturerbe der Stadt mit neuesten Wissen über nachhaltige Infrastruktur und Stadtplanung verbinden und konkrete Zukunftsperspektive bieten soll.
(Von Shigeru Ban Architects eingerichtete Notunterkunft im März in einer Turnhalle in Paris, c: Nicolas Grosmond)
Erfahrungen wie man Menschen unterbringt, die nach Naturkatastrophen über Nacht ihr Dach über dem Kopf verlieren, hat auch der japanische Architekt Shigeru Ban. 2004 entwickelte er nach einem Erdbeben in Südjapan erstmals ein einfach aufzubauendes System aus Papp-Stangen und Stoffbahnen, das Paper Position System PPS, das in großen Hallen und Sälen uneinsehbare kleine Abschirmungen schaffen kann. Das System kommt seitdem immer wieder zum Einsatz, in der Regel nach Erdbeben, und nun wieder im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg. Im März und April bauten Ban und MitarbeiterInnen des von ihm gegründeten Voluntary Architects’ Network das System selber in Notunterkünften in der Ukraine, in Polen und in Paris auf.