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Architektur x Neurowissenschaften

Am 24. Oktober 2022 hält der Architekturtheoretiker, Musik- und Kunstwissenschaftler Christoph Metzger im Vorfelde der Kölner Orgatec in Kooperation mit VARIO einen Vortrag über Räume als holistisches Erlebnis und die akustische Gestaltung von Räumen. Auf dem Gebiet forscht und lehrt Metzger seit zwanzig Jahren. Worum geht es genau und was ist Stand?

Sie sind habilitierter Musik- und Kunstwissenschaftler, Architekturtheoretiker und nutzen Erkenntnisse der Neurowissenschaften seit vielen Jahren bei Projekten im Wohnungsbau. Auf der Orgatec sprechen Sie über Räume als holistisches Erlebnis. Wie weit reicht das über die akustische Gestaltung von Räumen hinaus?
Christoph Metzger: Ich erkläre es mal wie folgt: Ursprünglich komme ich von der klassischen Gitarre, ein wahnsinnig interessantes Instrument. Ich hatte viele Jahre Unterricht bei Spitzenlehrern und habe lange unterrichtet, konzertiert habe ich nie, mein Level war einfach zu niedrig. Was ich am Instrument gelernt habe, übertrage ich in Teilen auf die Architektur. Jede Bewegung am Instrument, wird durch den gesamten Körper ausgelöst und reflektiert. Die Hölzer, die verarbeitet werden, haben eine lange Geschichte. Instrumentenbauer brauchen bis zu 30 Jahre, um ein Holz trocknen zu lassen, bis sie es verwenden können. Und jetzt kommts: Wir selbst sind Hohlräume, unheimlich viel in uns ist hohl wie bei einem Instrument. Im Körper haben wir Hohlräume, die Lunge ist ein Hohlraum, der Mundraum sowieso, wie eine Kathedrale angelegt. Auf manche Frequenzen reagieren wir besonders. Wir reagieren auf tiefe Frequenzen sehr empfindlich. Also alles, was unter 20 Hertz ist, ist nicht mehr bewusst hörbar. So lassen uns große Windräder nicht mehr tief schlafen und auch Tiere wie kleine Nager werden irre. Diese Geräusche hören wir nicht, aber der Körper schwingt in sich, er gibt es von der Haut an die Organe weiter. Zudem ist alles Temperatur-abhängig. Hören und Erleben von Resonanzen sind von Jahreszeiten, Luftfeuchtigkeit, unserem Alter und der Konditionierung abhängig. Ein komplexes Zusammenspiel multisensorischer und neuronaler Bezüge, die auf unseren ganzen Körper wirken. Vieles hängt davon ab, wie unsere Körperoberfläche beschaffen ist und wie sie mit Kleidung bedeckt ist. Zudem spielen die visuelle und haptische Ortung im Raum und unsere mentale Verfassung bei der Bewertung von Umgebungen eine zentrale Rolle. Und genau dieses Zusammenwirken ist das Thema der Neuroarchitektur und der Neurowissenschaften.


Heißt, Neuroarchitektur nimmt die Erkenntnisse der Neurowissenschaften und überträgt sie auf Bauwerke?
Die Neuroarchitektur ist eigentlich mehr Theorie als Praxis. Aber aus der architektonischen, raumbildenden oder künstlerischen Praxis betrachtet, ist sie in der Lage, die Stimulanzen zu beschreiben, die ein Raum bietet, und kann das auch in Folgen von Räumen im Gebäude übersetzen.

 

Welche Erkenntnisse lassen sich daraus für die Gestaltung von Räumen ziehen?
Es geht bei mir immer um die Aufenthaltsqualität. Räume müssen für ihre Nutzer optimal gestaltet sein. Ein Raum für ein Kind im Kindergartenalter hat naturgemäß andere Voraussetzungen als ein Raum für einen älteren Menschen. Die Aufenthaltsqualität von Räumen kann man messen. Wie lange halten sich Menschen gerne in Räumen auf? Wie entspannen sie? Wie verhält es sich mit ihrer Konzentration? Ich habe mit einem Pegel-Messgerät für Schallpegel und Frequenzen, einem Luftdruck-Messgerät, das auch die Luftfeuchtigkeit angibt sowie einer Stoppuhr zum Beispiel mal verschiedene Bibliotheken untersucht. Es war keine Überraschung, dass die Aufenthaltszeit dort am längsten war, wo die Beleuchtung gut war, keine hohen Schallpegel herrschten, die Luftqualität gestimmt hat und die Gestaltung gute Sichtachsen ermöglicht hat. Das holt die Nutzer ab und man kann Rückschlüsse ziehen, dass dies im Hinblick auf die Aufenthaltsqualität einfach dann auch gelungene und gute Architektur ist. Je größer Räume werden, desto schwieriger wird es den Menschen eine geborgene Umgebung anzubieten. Ohne Zonierungen durch geeignete Möbel und Ruhezonen verfehlen Bauwerke die ihr zugeschriebene Funktion. Die Innengestaltung wird dann oft zum Rettungsschirm für fehlerhafte Planung.

 

Sie sprechen davon, dass der Körper ein Resonanzraum ist. Welche Reize empfinden wir als angenehm, was als unangenehm?
Individuell ist das sehr unterschiedlich, hängt vom Alter ab, vom Geschlecht, von kultureller Prägung, der Körperkonstitution. Ein trainierter Sportler empfindet manche Geräusche als angenehm auf die andere gestresst reagieren. Es gibt besonders laute Typen, wie Harley-Davidson-Fahrer. Damit verbundene Geräusche empfinden Frauen oft als bedrängend und belastend. Man kann aber sagen: das, was kulturell positiv besetzt ist durch die eigene Geschichte und Biografie, das kann ich wieder wachrufen. Unangenehm für alle sind auf jeden Fall hochfrequente Töne, das längere Schreien von kleinen Kindern beispielsweise bohrt sich nahezu in die Hirnrinde ein. Tieffrequente Töne, Lüftungsanlagen zum Beispiel, können irrsinnig viel Stress bereiten. Monotonie auch. Wenn Sie Ihr Lieblingslied ungewollt den ganzen Tag hören, werden Sie irre.


Wenn man an die Resonanz von Räumen im Wohnungsbau oder bei der Büroplanung denkt, werden Geräusche und Lärm immer erstmal als etwas Schlechtes wahrgenommen.
Schallschutz-Auflagen und Lärmschutz-Verordnungen schützen in dieser Hinsicht vor Emissionen. Lärm ist aber ein diffuser Begriff. Was für den Einen Lärm ist, ist für den Anderen Musik. Zeitgenössische Musik, die hochkomplex ist, ist für viele völlig undurchdringlich. Warum? Weil darin viele Ereignisse so stark miteinander verknüpft sind, dass man wirklich Jahrzehnte braucht, und ich spreche von mir, um überhaupt zu ahnen, warum Musik hochkomplex sein kann. Generell gilt: Alles, was diffus ist, und mit Lärm verbunden sein kann, wird als Bedrohung empfunden. Positiv besetzt sind Geräusche, die mit positiven Erlebnissen und Bewegungen verbunden sind. Wenn der Harley-Motor aufjault und Papa kommt nach Hause, ist das etwas Positives. Wenn das der Nachbar ist, den ich nicht leiden kann, dann ist das für mich Lärm. Mit der Zuordnung sind Assoziations-Spiele verbunden. Aber wenn sie im Rhein-Main-Gebiet den Fluglärm kennen, dann ist das natürlich Lärm, weil Sie sich davon in Ihrer eigenen Welt bedroht fühlen, zu Recht.

 

Akustik ist ein wichtiges Thema bei der Gestaltung von Arbeitsplätzen. Ansätze sind das Abschirmen von Schall oder das Absorbieren. Was lässt sich aus der Neurowissenschaft oder auch der Musikwissenschaft einbringen?
Der kanadische Klang-Künstler und Tiefseetaucher Robin Minard, der in Weimar unterrichtet, hat eine Installation gebaut, die ein Regenwaldzirpen durch einen Raum verteilt, und er hat den Nachweis erbracht, dass mit leichten akustischen Impulsen die Aufmerksamkeit steigt. Man hört das manchmal auch in Wellness-Landschaften, weil man dadurch eine Stimulanz erzeugt, gleichzeitig auch eine Konzentration ermöglicht. Wir sind als Menschen unglaublich hyperaktiv in dem, was wir aufnehmen können. Um uns zu konzentrieren, müssen wir eine Balance von Stimulanz und Ruhe finden. Ein anderer Punkt ist gute Belüftung. Über Frischluft kann man sich überhaupt nicht genügend Gedanken machen, auch lange vor der Pandemiezeit. Und was das Material betrifft, sind offenporige Oberflächen ganz wichtig. Aus meiner Erfahrung heraus kann man Vieles nicht messen, aber die akustische Situation eines Raumes sehr gut erfühlen.

 

Freiliegende Beton-Wände, die eine Zeit lang in Mode waren, sollte man also tunlichst vermeiden?
Eine Betonwand ist das Schlechteste, was Sie haben können. Beton ist hart, die Oberfläche ist geschlossen. Es gibt interessante Betonbauten, aber dem Beton fehlen Absorptionsmöglichkeiten. Das heißt, der Körper muss das alles kompensieren.

 

Die Oberflächen nehmen Einfluss auf den Schall im Raum, den die Körper kompensieren. Was noch?
Das hat auch mit der Luftfeuchtigkeit und mit der Luftqualität zu tun. Je natürlicher und naturbelassener ein Material ist in diesem Zusammenspiel, desto besser können wir das verarbeiten. Lehm ist ein Alleskönner. An der Mosel gibt es einen oberirdischen Weinkeller, der ganzjährig konstant 14 Grad hält. Die Ziegel-Poroton-Hülle wird regelmäßig mit Wasser betropft. Diese Verdampfung reicht aus, um im Raum 14 Grad zu halten. Das ist schon genial. Das ist fast genauso genial, wie Andrea Palladio um 1530 bei Vicenza ein Haus beschrieb, in dem eine Luftleitung aus den Bergen gelegt wurde, um das Haus zu klimatisieren. Es ist aber auch wichtig, das Naturbelassene nicht zu überfrachten. Doch auch Neuerungen sind gut die einen Input bieten und Stimulanz haben. Es darf auch durch aus mal nicht ins Bild passen, etwas woran man sich gewöhnen muss, denn die Tiefe der Erfahrung macht die Sache erst spannend.


Wenn Sie erzählen, denkt man, dass man eigentlich viel weiter sein müsste.
Wir gehen heute von einem sehr funktionalistischen Bauen aus. Vieles, was im 20. Jahrhundert entstand, hat offenbar vergessen, was Baumeistern im 16. oder 17. Jahrhundert selbstverständlich war. Vieles, was Le Corbusier propagiert hat, und in Richtung Mensch, Maschine, Funktionalismus geht, ist von Frank Lloyd Wright als Faschismus in der Architektur scharf kritisiert worden. Ich habe in meinem Berliner Büro eine großformatige Aufnahme eines ikonischen Bauwerkes aus den 1930er Jahren von Frank Lloyd Wright hängen, Fallingwater, es hat nie jemand drin gewohnt. Das Haus war einfach zu laut, hatte Probleme mit den Baumassen und war einsturzgefährdet. Ursprünglich sollte es mit Gold überzogen werden, ein absolut ikonisches Bauwerk, weil es eigentlich ein Kunstwerk ist, ein Gegenentwurf zu dem, was unter funktionaler Architektur in Europa propagiert wurde. Als ich mich genauer mit dem Bauwerk beschäftigt habe, zeigte sich mir, wieviel wir eigentlich verlernt haben, wenn wir über Architektur sprechen.
 

(Bild: Fallingwater, c: Frank Lloyd Wright Foundation)


Mit der Open Mainded Projektentwicklung bauen Sie vor allem für ältere Menschen. Was setzen Sie bei der Raumgestaltung um?
Ältere Menschen bewegen sich zu wenig und wenn sie sich bewegen, sind sie meist unsicher. Was brauchen Sie also? Haptische Qualitäten. Die Möbel, in meinem Büro, sind zum Beispiel nichts für ältere Menschen. Die Oberflächen erzählen keine Geschichten. Noch schlimmer wird es dann, wenn sie in die Corbusier-Richtung gehen, das ist komplett Schrott für alte Leute. Alte Leute brauchen standfeste Holzmöbel mit guter Polsterung, die eine Atmungsaktivität hat. Sie brauchen einen Boden, am besten in Holz. Der Holzboden sollte glatt sein und darf keine Unfall-Gefahren bergen. Sie brauchen eine ausgewogene Klimatisierung, idealerweise warme Füße, kalter Kopf. Sie müssen für einen alten Menschen Bewegungs-Anreize setzen, ganz wichtig.

 

Eine gute Möblierung kann viele architektonische Fehler ausgleichen. Aber gleichzeitig stehen die Innenarchitekten immer etwas im Schatten der Architekten.
Man muss Gutes tun und dann sehr laut darüber reden.

 

Konnten Sie immer alles umsetzen, was Sie wollten?
Nein, nur teilweise und im Ansatz. Wir wissen, dass Investoren nicht nur auf die Philosophie schauen, sondern auf den Cashflow und auf Rentabilität. Derzeit öffnen sich aber die Ohren in die Richtung, in die ich schon seit 15 Jahre zu überzeugen versuche. Es gibt einen Einstellungs-Wechsel, der gottseidank durch die neuen Nachhaltigkeitskriterien, die im Rahmen der ESG verordnet sind, eine Rückbesinnung auf traditionell gute Architektur bedeuten. Nachwachsende Materialien sind jetzt stärker einzusetzen. Holz kann einfach alles, auch als Material im Modulbau. Irre lange Jahre hatte die Betonlobby alles in der Hand. Mittlerweile kann man achtgeschossige Holz-Modulbauten herstellen. Wichtig ist auch die CO2-neutrale Klimatisierung von Räumen, und auch da bewegt sich Vieles.


Prof. CHRISTOPH METZGER, Jahr 1962, Open Mainded Projektentwicklung AG Frankfurt, ist Musik- und Kunstwissenschaftler und Architekturtheoretiker. Er lehrte als Professor an der TU Cottbus und in Braunschweig. Von ihm erschienen u.a. die Bücher "Neuroarchitektur", "Architektur und Resonanz" und viele Fachbeiträge.

-> Der Vortrag "Architektur x Neurowissenschaften - Räume als holistisches Erlebnis" von Christoph Metzger findet statt am 24. Oktober, 19.20 Uhr, md-Fachveranstaltung "AKUSTIK + BÜRO". Ort: Bogen 2 in Köln. Die Präsenzveranstaltung wird auch live gestreamt. Zur Anmeldung hier entlang.
 

 

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